Wie erfahren wir Heilung? Und inwieweit sind Gesundheit und Moral miteinander verbunden?
Pater Dr. Jörg Müller besucht erneut die Arche in Dischingen und berichtet aus seinem reichen Erfahrungsschatz vom unermesslich großen Themenkomplex Heilung.
Pater Müller differenziert bereits zu Anfang zwischen körperlicher und geistiger Heilung. Während die Medizin sich schwerpunktmäßig auf die Linderung von körperlichen Beschwerden und von Krankheitssymptomen fokussiere, komme der wichtige Aspekt der seelischen Heilung regelmäßig zu kurz. Eng verknüpft sind beide Bereiche mit dem Vergeben von Schuld. Dies ist ein Motiv, das Müller im Verlauf des Abends noch häufiger thematisieren wird.
Zunächst hält er den Anwesenden jedoch einen Spiegel vor und weist darauf hin, dass es eine typisch deutsche Enttäuschung gebe, die aus einer unrealistischen Erwartungshaltung eines Heilungsanspruchs resultiere.
Wurzel dieser Enttäuschung ist die Erwartung, Heilung muss sofort und ohne Umschweifegeschehen, und zu 100% erfolgreich sein. Dabei wird allerdings verkannt, dass die seelische Komponente eine wesentliche Rolle im Heilungsprozess spiele. Die Erforschung von Symptomen selbst bringt demzufolge keine direkte Heilung, sondern ist allenfalls ein Mittel, um tieferliegende Gründe zu erforschen.
„Das Alter ist in Rosen gebettet“, sagt Pater Müller. Dass er damit vor allem auch alles meint, was zwischen Neurose und Gürtelrose liegt, scheint zunächst nur ein Gag zu sein, trägt aber auf den zweiten Blick erstaunlich viel Wahrheit in sich. Er will seine Ausführungen allerdings nicht als Gegenrede zur klassischen Medizin verstanden wissen. Schon in der Bibel stehe bei Jesus Sirach 38,1: „Erweise dem Arzt gebührende Verehrung, damit du ihn hast, wenn du ihn brauchst; denn auch ihn hat der Herr geschaffen“. Welche große Rolle die Psyche mit der Seele spielt, zeigt sich an immer wiederkehrenden Erkrankungen ohne organischen Befund.
Ein offenes Geheimnis ist dabei eine Stellschraube, die ebenso zu häufig ignoriert wird: Die Ernährung. Pater Jörg Müller gibt selbst zu Protokoll, dass er in hohem Maße auf seine Ernährung achte und sich mit jener Achtsamkeit eine deutliche Verbesserung seiner Gesundheit eingestellt habe. „Ernährung ist der Schlüssel!“, mahnt er an.
Heilung in der Psychotherapie zeigt sich unter anderem in dem anspruchsvollen Feld des körperlichen und seelischen Missbrauchs. Müller führt aus, dass derartige Fälle vor allem in Familien vorkämen und Opfer und Täter sich in der Regel kennen. Besonders jene psychologischen und körperlichen Belastungen seien schwer zu heilen, weil das Thema in großem Maße mit Scham behaftet sei und viele eher den Gedanken verfolgten „Was sollen denn die Leute denken?“, anstatt sich um eine Therapie zu kümmern. Depressivität habe sich vor allem unter Schülerinnen und Schülern seit Corona sehr verbreitet und sei noch lange nicht überwunden.
Spannungen im sozialen Gefüge sowie ausbleibende Heilung seien vor allem auf einen Umstand zurückzuführen, sagt Pater Müller. Kern dessen ist eine negative Erwartungshaltung und die anerzogene Prägung, anderen nicht wehtun zu wollen. Die Verdrängung psychischer Konflikte (sogenannte Konversionsneurosen) führen zu körperlichen Erkrankungen oder zumindest Symptomen. Derlei Konflikte können durch eine effektive Strategie aufgelöst werden: Vergebung. Heilung zeigt sich insbesondere in der Vergebung als Prozess und benötigt Zeit. Wichtig ist dabei, sich nicht auf ständiges Sanktionieren zu fokussieren, das Schuldgefühl noch verstärkt, sondern Kränkungen, die man erfahren hat, bewusst abzugeben. Emotionale Angelegenheiten sind selbstverständlich nicht immer objektiv betracht- und behandelbar, doch sollte jeder Mensch sich hin und wieder darüber klar werden, dass Kränkungen in der weit überwiegenden Zahl der Fälle gar nicht für uns gemeint sind. Normalerweise sind sie ein Projizieren von negativen Gefühlen auf eine andere Person – die Empfängerin jener Emotionen. Pater Müller fasst dies treffend zusammen: „Eifersüchtige sehen viel zu viel. Liebende sehen viel zu wenig.“
Eine praktisch anwendbare Methode der Heilung stellt seit jeher das Fasten dar. Die bewusste Steuerung und der bewusste Verzicht der Nahrungsaufnahme ist dabei nur ein Baustein. Pater Müller empfiehlt mit einem kleinen Augenzwinkern, auch einmal bewusst auf das Reden zu verzichten. Mit Wertschätzung, Empathie und Dankbarkeit ist es bereits möglich, eindeutige Heilungserfolge zu erzielen. Reue und Vergebung sollten daher gerade in der heutigen Zeit wieder stärker in den Vordergrund rücken. Sie sind der Weg für ein besseres Miteinander, aber auch für ein Auflösen von negativen Gefühlen in einem selbst.
Pater Jörg Müller schließt seinen Vortrag damit, dass er allabendlich um „Entsorgung“ bittet. Es geht dabei um ein Freimachen von den eigenen Sorgen, um sich am Ende des Tages mit anderen, aber auch mit sich selbst zu versöhnen.
Niklas Junkermann